Was sind
Zeichen? Ist es ein Zeichen wenn der Ehering am Tag der Hochzeit plötzlich
nicht mehr passt? Oder wenn ein längst vergessener Brief der Jugendliebe am Tag
vor der Hochzeit ganz plötzlich in die Hände der Braut gerät? Oder wenn man die
Brautjungfer mit dem Bräutigam einen Tag nach der Hochzeit im Schlafzimmer
erwischt?
Das sind die Fragen, die Michèle seit einiger Zeit
beschäftigen. Sie hat sich im Bad der geräumigen Drei-Zimmer-Wohnung
eingeschlossen und lauscht dem stetigen Klopfen, das durch die Tür dringt,
ebenso wie der tiefen dumpfen Stimme, die sagt: „Komm schon Liebling, es ist
nicht so, wie es aussieht. Ich schwöre, ich liebe nur dich.“
Wahrheit oder ausgelutschte Floskel? Wohl eher Floskel!, denkt sie, antwortet
jedoch nicht. Sie liegt stumm auf dem Boden, die eisigen Fliesen an ihrer Haut
nimmt sie kaum wahr. Tränen rollen über ihre Wangen, tropfen auf die
spiegelglatten Kacheln. Am liebsten würde sie sich in Luft auflösen.
Wieder das Klopfen.
Nein. Sie will nicht, sie kann nicht. Warum lag sie hier? Warum fiel sie in
dieses Loch, dieses unendlich Loch? Paul müsste hier liegen, müsste leiden und
in den Abgrund stürzen. Das Leben ist so
unfair!
Sie wartet. Und wartet. Es dauert lange, aber
irgendwann verstummt das Klopfen und etwas später auch die Stimme. Ob er wohl aufgegeben hat? Sie hofft es
und gleichzeitig bricht ihr der Gedanke das Herz. Wie kann er ihre Liebe nur so
schnell aufgeben?
Sie will nicht aufstehen, will sich keinen
Millimeter bewegen, doch am Ende siegt die Neugierde. Sie muss es einfach
wissen. Michèle rappelt sich auf, langsam und schwerfällig. Auf dem Weg zur
Badezimmertür wirft sie einen flüchtigen Blick in den runden Spiegel über dem
Waschbecken und hält inne. Oh Gott! Ist
das wirklich ihr Gesicht, das ihr da entgegen blickt? Zugeschwollene Augen,
schwarze Striemen der Wimperntusche über das ganze Gesicht verteilt (Von wegen Wasserfest!), die zuvor noch
perfekte Hochsteckfrisur gleicht einer Katastrophe, zahlreiche Strähnen sind herausgefallen,
Haarklammern hängen lose daran.
Sie steht eine ganze Weile so da, betrachtet
sich und denkt darüber nach wie sie nur einen Tag zuvor elegant durch die
Reihen der Kirche geschritten war. Wie die Gäste sie staunend und überwältigt
von ihrem Anblick angestarrthatten.
Und sie denkt an die mitleidigen Blicke, mit
denen ihr alle begegnen würden, könnten sie sie jetzt sehen. Obwohl, nicht alle
würden sie bemitleiden. Ihre Mutter würde wohl nur in verächtlichem Ton sagen:
„Das kommt davon, wenn du dich nicht richtig um deinen Mann kümmerst. Das
kannst du dir alles selbst zuschreiben. Wer will schon so eine beleibte Frau
wie dich, du solltest mehr Sport treiben, weniger Essen, deine Fettpölzterchen loswerden...“
Blabla, blabla, blabla!
Seit Michèle in die Pubertät gekommen war, hatte
es nur noch „Iss nicht so viel.“, „Sieh dir deine Schwester an, wie schön
schlank sie ist.“ und „Wenn du so weitermachst, kriegst du nie einen ab.“
geheißen. Eigentlich hatte Michèle gehofft die ständigen Tiraden ihrer Mutter
würden aufhören, wenn sie ihr ihren Verlobten präsentierte. Aber da hatte sie
sich gründlich getäuscht.
Doch das spielt keine Rolle mehr. Sie hatte jemanden
gefunden, sie hat ihn gefunden. Den Mann, aller Männer! Weil er sie liebt wie
sie ist. Ohne Wenn und Aber. Für immer.
Das glaubte sie zumindest bis vor ein paar Stunden.
Sie atmet tief durch, schleicht auf
Zehenspitzen zur Tür, dreht so leise wie möglich den Schlüssel im Schloss und
schiebt sie einen Spalt breit auf. Der Raum davor scheint leer zu sein. Kein Paul mehr.
Sie geht aus dem Zimmer, ohne nachzudenken
wendet sie sich dem Kleiderschrank zu. Ihr Blick fällt dabei auf die zerwühlten
Laken. Übelkeit steigt in ihr auf. Am liebsten würde sie sich wieder ins Bad
verkriechen, um diesen Anblick nicht länger ertragen zu müssen. Nein, Flucht nach vorn, nicht zurück!, denkt sie. Aber sie muss sich
beeilen, wer weiß schon, wann Paul zurückkommt?
Michèle greift die kleine Sporttasche aus dem
Schrank, schmeißt ein paar Klamotten hinein ohne wirklich darauf zu achten, welche
und stürmt zu der großen Fensterfront. Sie besinnt sich, bleibt einen Moment
stehen. Sie kehrt noch einmal um und zieht den kleinen Brief aus der Schublade
ihres Nachttisches, den sie vor zwei Tagen erhalten hatte. Sie umschloss ihn
fest und dachte: Zeichen. Es muss so
sein. Sie eilte zurück zu den Fenstern, öffnete das linke, das zur
Feuertreppe führte. Michèle schluckte schwer und verließ dann die Wohnung. Auf ins nächste Abenteuer!, dachte sie
und schniefte laut.